Mein Leben ist nicht unbedingt ereignislos. Ich bin den Jakobsweg gelaufen, habe mit der Königin von Schweden Spargel gegessen und nachts Beton und Stahl angesprüht. Ich lag mehrmals in Krankenhäusern, wurde schon mal überfallen, Otto war auf meiner Hochzeit, ich habe Kunst ausgestellt und zwei Wochen lang während einer Dschungelcamp-Staffel für eine Keksriegelmarke Werbung getextet. Was mir allerdings Anfang Mai 2008 innerhalb von weniger als 100 Stunden passiert ist, verstört mich bis heute.
Ende April 2008 sind mein Vater und ich zu zweit nach Japan gereist, um zwei Wochen lang die Verwandtschaft sowie einige Freunde meiner Eltern abzuklappern. Nachdem wir bereits 90 Prozent der Reise und Besuche hinter uns gebracht hatten, wollten wir eine letzte Nacht in Chiba bei Tokyo verbringen. Dort wohnte ein älteres befreundetes Paar, zudem dessen erwachsener Sohn mit Ehefrau und Kind – drei Generationen also. Das kleine Kind, mit dem ich damals Lego gespielt habe, gehört heute zu den größten Schwimmtalenten Japans und trainiert in den USA im Olympiastützpunkt, aber das nur nebenbei.
Wie schon die gesamte Reise über, wurde auch der Abend in Chiba lang und länger, es floss viel Alkohol. Irgendwann wollte mein Vater aufstehen, stolperte und schlug mit dem Kopf irgendwo auf – ich weiß nicht mehr genau, ob es der Boden war oder etwas anderes. Im ersten Moment schien alles okay zu sein, er rappelte sich auf und ging schlafen. Erst am nächsten Tag stellte sich heraus, dass mein Vater schwere Kopfverletzungen erlitten hatte. Er wirkte benommen und verhielt sich seltsam, so dass ich die Freundin drängte, ihn in ein Krankenhaus zu bringen. Dort schickte man uns weiter in eine Spezialklinik, wo der Kopf meines Vaters genauer untersucht wurde. Das Ergebnis: Er hatte drei Hirnblutungen erlitten, eine davon war kritisch. Er wurde auf die Intensivstation gebracht, gleichzeitig wurden wir nach Hause geschickt. Ich war völlig erschöpft.

Erst weit nach Mitternacht kam ich dazu, mich schlafen zu legen. Als ich so dalag, begann plötzlich alles zu wackeln. Die Erde bebte. Und zwar nicht zu knapp. Allerdings war ich weder eingeschüchtert noch verängstigt. Ich war genervt. Den ganzen Tag über hatte ich mich um meinen Vater gekümmert und unsere Rückfahrt nach Osaka verschoben, mir Sorgen gemacht und mit meiner Mutter telefoniert. Ich war müde. Todmüde. Und dann hielt mich dieses verschissene Erdbeben wach, natürlich mit einem noch stärkeren Nachbeben etwa zwanzig Minuten später. Am nächsten Tag habe ich gelesen, dass das zweite Beben eine satte 7,0 auf der Richterskala erreicht hatte.
Allerdings habe ich die Sache mit dem Erdbeben sehr schnell wieder verdrängt und vergessen. Erst nach Jahren habe ich mir intensivere Gedanken darüber gemacht. Damals war mir nur wichtig, wie es meinem Vater ging. Wir fuhren ins Krankenhaus, wo mein 60-jähriger Vater der mit Abstand jüngste Patient war. Es ging ihm schon besser, allerdings hatte er krasse Aussetzer beim Sprechen. Ich musste ihn da lassen und allein abreisen, sowohl aus Chiba als auch aus Japan. Die restlichen zwei Tage bis zum Rückflug verbrachte ich damit, ständig mit der Versicherung und meiner Mutter zu telefonieren. Die Urlaubserholung war damit hin.
Wer BC fliegen will, muss freundlich sein
Am Samstag, drei Tage nach dem Unfall, fuhr mein Onkel mich zum Flughafen. Dort angekommen, wurde mir am KLM-Schalter gesagt, dass mein Flug überbucht sei. Die Mitarbeiterin am Check-in-Schalter fragte mich, ob ich damit einverstanden wäre, mit einer anderen Maschine über Paris CDG zu fliegen statt über Amsterdam. Da ich schon mehrmals über CDG geflogen war und mich der furchtbare Airport nicht besonders abschreckte, erklärte ich mich einverstanden. Drei weitere Mitreisende gesellten sich freiwillig zu mir. Nachdem der Check-in abgeschlossen war, erklärte uns die Mitarbeiterin von KLM, dass die vier Freiwilligen doch mit der ursprünglichen Maschine mitfliegen – allerdings hochgebucht in der Business Class.
Zu viert eilten wir zum Flieger, wo wir an der langen Schlange vorbei über das Priority Boarding einsteigen durften. Da auch noch der Platz neben mir frei blieb, konnte ich mich besonders entspannt gehen lassen. Obwohl ich vom viertägigen Stress und Schlafmangel komplett zerzaust und scheiße aussah, behandelte mich das KLM-Team genauso freundlich und respektvoll wie die Geschäftsreisenden um mich herum. Der Service war herausragend, das Essen gut. Aber das Allerbeste war der Sitz, der sich komplett waagerecht zu einem Bett klappen ließ.

Auf dem Hinflug zum Jakobsweg wurde ich ebenfalls in die Business Class hochgebucht, aber das war in einer Mini-Maschine mit unter zwei Stunden Flugzeit und keinerlei Unterschied zur Economy beim Komfort. Bei einem Zwölf-Stunden-Flug nach vier alptraumhaften Tagen macht sich der Klassenunterschied deutlich bemerkbar. Als ich in Amsterdam aus der Maschine geschwebt bin, sind mir die ganzen zerquetschten Economy-Nasen entgegengekommen. „Die haben genauso viel für den Flug bezahlt wie ich“, dachte ich. Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass jede allein oder zu zweit fliegende Person gefragt worden ist, ob sie über Paris fliegen würde. Manchmal wird Nettsein belohnt, wenn auch selten.
Mein Vater hat sich nie wieder vollständig von den Kopfverletzungen erholt, konnte später aber wieder arbeiten, Auto fahren und Scrabble spielen. Anfang 2019 ist er gestorben. Ich habe einige Tage später meine neue Stelle als Junior-Texter bei Wire angetreten. Ein Jahr später hatten mich die psychischen Folgen dieser vier Tage im Mai 2008 eingeholt. Daraufhin bin ich den Jakobsweg gelaufen – ich wurde also direkt zweimal hintereinander in die Business Class hochgebucht.