Marketing wird häufig mit Marktschreierei umschrieben, was gar nicht so abwegig ist. Schon die ersten Händler*innen der Menschheitsgeschichte mussten ihre Waren anpreisen. Herumbrüllen war die einfachste Art, das zu tun. Im Laufe der Zeit kamen Dekorationen und Schilder hinzu. Irgendwann stiegen die Ansprüche dermaßen, dass sich einige Menschen allein auf Marketing spezialisierten – die Werbebranche war geboren. Allerdings bezweifle ich, dass die Branche noch lange überlebt, wenn sie so weitermacht wie bisher.
Ich bin 2005 in die Werbebranche eingestiegen. Schon damals habe ich gewusst, dass die große Party vorbei ist. Zwischen den Sechzigern und Achtzigern waren horrende Summen aus dem Fenster geworfen worden, direkt in den gierigen Schlund der Werber:innen. Damals haben Unternehmen ganze Horden von Menschen für Megaproduktionen, zum Beispiel einminütige Werbespots, um die halbe Welt geschickt. Den Höhepunkt bildete schließlich die Dotcom-Blase, in der Stars und Sternchen für die allerletzten Schrottfirmen geworben und Millionengagen kassiert haben. Genau im Crash-Bogen zwischen 2000 und der Weltwirtschaftskrise 2008 bin ich aus der Schule in die freie Wirtschaft gestolpert. Gar nicht mal so schlau.
Mein erstes Gehalt als Praktikant betrug weniger als 300 Euro netto. „Betrug“ passt da leider ganz gut, heute wäre eine solche Ausbeutung zu Recht illegal. Auch mein erstes Gehalt als Vollzeit-Festangestellter war lächerlich niedrig und lag bei 1600 Euro brutto. Mit meinen Überstunden lag mein Stundenlohn damals bei etwa vier Euro; auch das wäre heute verboten. Ab der ersten Stelle war mir daher klar: die fetten Jahre sind vorbei. Es gab genug Nachwuchs, also konnten sich die Agenturführungen auf Kosten der Angestellten die Taschen vollhauen. Heute rächt sich das.
Titanic Werbebranche: groß, mächtig, „unsinkbar“
Seit Jahren klagen die Agenturführungen über Nachwuchsmangel. Eine Branche, die über Leichen geht, lügt und betrügt, völlig abgehoben in ihrer eigenen Realität lebt, den Nachwuchs schlecht behandelt und bezahlt, jammert über Nachwuchsmangel. Man möchte sich selbst das Gehirn auslöffeln, so bescheuert ist das. Die Werbebranche, angeführt von selbstverliebten Koryphäen, die der Presse ihre Penthouses präsentieren, ist so sehr abgedriftet, sie erinnert mich stark an J. Bruce Ismay, ab 1899 Direktor der White Star Line und einem der Hauptverantwortlichen der Titanic-Katastrophe. Größenwahnsinnig und verblendet Richtung Eisberg. Einem Eisberg namens „Künstliche Intelligenz“.
Wir schreiben das Jahr 2025 und viele Agenturen rasieren gerade ihre Personalkosten. Mithilfe vieler KI-Tools können immer weniger Menschen immer mehr Arbeit erledigen. Durch die Entlassungen und Einstellungsstopps wird der Arbeitsmarkt mit fähigen Kreativen überschwemmt. Da die Agenturen kaum noch Personal einstellen, schauen sich die arbeitssuchenden Kreativen außerhalb der Marketingwelt um. Die einen landen in Unternehmen, die anderen machen sich selbstständig oder lernen etwas völlig Neues. Ich gehöre zur ersten Sorte und leite seit anderthalb Jahren Kommunikation und Markenerlebnis in einer mittelständischen Softwarefirma.
Früher war ich in Agenturen, heute mache ich Agenturen überflüssig
Als ich Freelancer war, habe ich bei Agenturen angeklopft und um Jobs gebettelt. Jetzt klopfen die Agenturen bei mir an und betteln. Und was soll ich sagen? Wir brauchen keine Agentur – dank mir. Werbeagenturen sind fachlich einfach nicht in der Lage, uns adäquat zu betreuen. Gleichzeitig rufen sie Preise auf, über die ich 24/7 den Kopf schütteln könnte. Jeder Dienstleister, den wir in der Vergangenheit engagiert haben, war mit unseren Produkten und unseren Zielgruppen völlig überfordert. Jetzt machen wir es selbst.
Wir hocken hier zu dritt und stemmen alles selbst: Livestreams, Videos, Posts, Webentwicklung und SEO, SEA, Kooperationen, PR. Sobald wir eine Idee haben, setzen wir sie um, statt irgendwelche Abstimmungsrunden mit einer Agentur zu drehen. Wir kennen unser hochkomplexes Produkt in- und auswendig, wir kennen unsere Zielgruppen, wir kennen alle relevanten Kanäle und Hebel. Würden wir eine Agentur engagieren, wir hätten etwa 300 Prozent höhere Kosten für schlechtere Arbeit. Vorbei sind die Zeiten, als in Inhouse-Agenturen und Marketingabteilungen nur die kreative Resterampe herumdümpelte und Werbeagenturen gegenüber Unternehmen auftrumpfen konnten.
Was für Agenturen gilt, gilt auch für Kreative
Schon vor 20 Jahren habe ich meinen Kolleg*innen gesagt, dass die meisten Tätigkeiten in der Werbebranche schon bald durch Maschinen (bzw. Software) übernommen werden. Entsprechend habe ich mich beruflich nie ausgeruht, sondern jede Gelegenheit genutzt, um meinen Horizont zu erweitern und Wissen aufzubauen. Andere Texter*innen haben größere Kampagnen, bekanntere Arbeiten, mehr Auszeichnungen vorzuweisen. Meine Vita dagegen sieht aus wie ein Flickenteppich, als wäre ich planlos von Insel zu Insel gehüpft. Allerdings war genau das mein Plan.
Ich habe gemalt und gezeichnet, gestaltet und animiert, war in kleinen und großen Agenturen – von Onlinemarketing über Klassik und Dialog bis zur Social-Media-Butze. Heute kann ich Texte verfassen, in mein eigenes Layout einfügen und formatieren, Bilder suchen oder mit der DSLR/DSLM aufnehmen und bearbeiten, das Layout reinzeichnen oder als WebP, png oder ein interaktives PDF exportieren, Videos aufnehmen und produzieren, Blogartikel und PR-Material produzieren, als PR-Artikel aufbereiten und veröffentlichen, Inhalte SEO-fit aufbereiten, auf meine selbst gebaute Landingpage laden, über von mir betreute Social-Media-Kanäle bewerben und so weiter. Warum erzähle ich das? Genau wie die Agenturen haben auch viele Kreative immer noch nicht begriffen, dass sie sich nicht auf einigen wenigen Fähigkeiten ausruhen sollten. Denn diese wenigen Fähigkeiten können ganz einfach von KI-Tools übernommen werden.
Wer in Einzeldisziplinen denkt, kann einpacken
Sobald jemand eine ganze Reihe Fähigkeiten entwickelt hat und in der Lage ist, diese miteinander zu kombinieren und strategisch zu nutzen, ist die Person nicht mehr so einfach zu ersetzen. Und die KI-Tools werden plötzlich zu mächtigen Verbündeten. Leute wie ich mussten sich früher zwischen Text und Grafik, zwischen Videoproduktion und Webdesign entscheiden. Durch die KI-Tools muss ich das nicht mehr. Ich kann alle meine Talente einsetzen – gleichzeitig und täglich. Wir stampfen zu dritt in wenigen Stunden Projekte aus dem Boden, für die früher eine Agentur ein vierköpfiges Team eine Woche lang ausgelastet hat.
Dem kreativen Nachwuchs von heute kann ich nur eindringlich zureden: Entwickle dich zu einem*einer Allrounder*in, halte dich auf dem Laufenden, probiere alle möglichen Tools aus, behalte das große Ganze im Auge und verliere dich nicht in Einzeldisziplinen. Verfolge ganz genau die Trends: Was können aktuelle KI-Modelle, Soft- und Hardwarelösungen leisten? Was kann ich damit erreichen? Den Agenturen werde ich keine Ratschläge geben. Die einen werden sich entwickeln, die anderen auf der Strecke bleiben. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie egal es mir ist.