Jeder Mensch kennt Jaguar, diese englische Traditionsmarke mit der schicken Raubkatze als Kühlerfigur auf der Motorhaube. Kaum jemand kann ein Automodell der Marke nennen, doch die Marke selbst ist geläufig. So richtig bewusst wahrgenommen wird sie von der breiten Masse seit November 2024. Denn da präsentierte das Unternehmen seine Zukunftsvision: eine moderne, nach vorn gerichtete Lifestyle-Marke für progressive Menschen. Die Pressebilder provozierten jede Menge Kommentare von Menschen, die sich vorher nie mit der Marke beschäftigt haben. Oder mit Markenbildung generell. Darüber hinaus liefen viele Jaguar-Traditionalist*innen Sturm. Ist die Neuausrichtung wirklich der Untergang von Jaguar, wie viele prophezeien?

In meinen 44 Lebensjahren bin ich lediglich einer einzigen Person begegnet, die Jaguar gefahren ist: meinem Lehrer aus der Waldorfschule, Herrn Brettschneider. Er war sogar ein bisschen bekannt dafür, dass er einen Jaguar fuhr. Wer sich die Verkaufs- und Zulassungszahlen von Jaguar der vergangenen Jahre anschaut, stellt schnell fest: Es konnte so nicht weitergehen. Im erfolgreichsten Jahr 2018 verkaufte die Marke 180.198 Fahrzeuge weltweit, was schon nicht besonders viel ist. Die Hauptaufgabe eines Automobilherstellers besteht nicht darin, irgendwelche Gebrauchtwagen-Fans glücklich zu machen. Denn die bringen dem Hersteller keinen müden Penny. Ein Automobilhersteller muss in erster Linie Automobile verkaufen.

Jaguar musste also handeln. Die Marke gehört zu Jaguar Land Rover Ltd., einer Tochterfirma der indischen Tata Motors Ltd. Zu Tata gehören viele Automobilmarken, vor allem aber gehört Tata Motors selbst zum milliardenschweren Konglomerat Tata Group. Das sollte man wissen, bevor man irgendeinen Stuss übers Rebranding schreibt. Denn das bedeutet zwei entscheidende Fakten:

  • Tata hat in aller Ruhe überlegt, welche Rolle die Marke Jaguar im Konzern übernehmen könnte. Jaguar ist kein Solist, sondern Teil eines Orchesters.
  • Tata hat Geld und Zeit. Jaguar kann es sich leisten, mehrere Jahre an der Entwicklung neuer Fahrzeuge zu arbeiten, ohne ein einziges Fahrzeug zu verkaufen. Daher kann sich die Marke den radikalen Schnitt locker erlauben.

Jaguar möchte und muss nicht allen gefallen

Traditionalist*innen überschätzen gern ihre Rolle. So konnte oder wollte mir von den ganzen Rebranding-Kritiker*innen bisher niemand die Frage beantworten, ob sie jemals einen Kauf eines Jaguars in Betracht gezogen hätten. Die Wahrheit ist: Plötzlich gibt es Millionen Jaguar-Fans, aber niemand von ihnen hat je einen Jaguar gekauft. Und wenn wir ehrlich sind, hätten sich die meisten ebenso wenig jemals einen neuen Jaguar angeschafft. Das erinnert mich sehr an die Menschen, die sich über schließende Ladengeschäfte beklagen, aber selbst alles online kaufen.

Jedes Mal, wenn ein Unternehmen mit einer radikal neuen Idee an die Öffentlichkeit geht, steht eine meckernde Menschenmenge parat. Bestes Beispiel: die Präsentation des ersten iPhone durch den damaligen Apple-Chef Steve Jobs. Der hatte bereits einige bahnbrechende Ideen etabliert. Trotzdem kamen die ganzen Gurkenschäler aus ihren Löchern gekrochen, um sich über das Telefon mit nur einer einzigen Taste lustig zu machen. Ich habe mir die Präsentation von Jaguar angeschaut und vor allem angehört. Mir ist relativ schnell klargeworden, dass wir gar nicht über das neue Logo, die progressiven Designstudien oder die ungewohnten Farben diskutieren müssen. Das Wichtigste an der Präsentation war die strategische Vision. Denn die griff die Tradition von Jaguar auf, die in den vergangenen Jahrzehnten verloren: radikal und innovativ zu sein.

Kleingeister denken an Quartalszahlen, Visionär*innen an die Zukunft

Jaguar war nie eine gefallsüchtige Marke für alle. Deshalb muss auch die zukünftige Marke nicht jeder dahergelaufenen LinkedIn-Bumsbirne gefallen. Allein schon der ganze Hass gegenüber der progressiven Neuausrichtung wird viele Käufer*innen anlocken. Natürlich muss am Ende des Tages ein geiles Auto auf dem Asphalt stehen. Allerdings sind technologisches und automotives Know-how im Konglomerat mehr als reichlich vorhanden. Und wenn in ein paar Jahren die ersten Superstars und Sternchen mit ihrem Jaguar im Social-Media-Feed auftauchen, um besonders edgy zu sein, werden die alten Traditionalist*innen und Schwarzmaler*innen sehen, dass die Party ohne sie weitergeht.

Titelbild: © Jaguar Land Rover Automotive PLC, 2024. Link zur User-Licence.