Manchmal (nein, eigentlich sehr oft) denke ich, ich hätte nichts geschafft im Leben. Dann schaue ich auf dieser Website nach und merke: Okay, ich habe wirklich nichts geschafft, aber immer noch mehr als die meisten Arschlöcher, die meine Kindheit und Jugend zur Hölle gemacht haben. Bei meiner Mutter allerdings muss man etwas genauer hinschauen, wenn es um ihre Lebensleistung geht.
Ich habe meine Mutter ausschließlich als Hausfrau und Mutter kennengelernt. In Deutschland hat sie nie gearbeitet. Erst fehlte die Arbeitserlaubnis, später die Energie. Wäre sie in Japan geblieben, sie hätte sicherlich bis zu einem gewissen Zeitpunkt eine beeindruckende akademische Karriere hingelegt. Man weiß es nicht. Jedenfalls kam sie mit meinem Vater und seinen Auswanderungsplänen Anfang der 1970er nach Deutschland. Hier hockte sie zunächst mit drei japanischen Studenten in einer WG herum, bevor sie mit meinem Vater erst an die Nordsee und dann ins Ruhrgebiet gezogen ist.
Kaum angekommen, purzelte auch schon mein älterer Bruder auf die Welt. Dann kam ich, dann meine Schwester. Keine Ahnung, wie doll meine Mutter Kinder gewollt hat, mein Vater wollte auf jeden Fall welche – und schon waren wir abgeladen in dieser beschissenen Welt. Wie so viele Männer, gondelte mein Vater durch die Gegend und ackerte sich den Arsch ab, während meine Mutter zu Hause blieb und sich dort den Arch abackerte. Da hockte sie also in diesem fremden Land mit drei Kindern, einem Mann, der fast immer unterwegs war, hatte keine Eltern oder Schwiegereltern, die sie in irgendeiner Weise unterstützen konnten. Sie war mit uns drei kleinen Scheißerchen ganz allein.
Allein, verwitwet, los geht’s!
Als mein Vater noch gelebt hat, hat meine Mutter nie etwas allein unternommen. Nie. Daher haben wir Kinder uns unsere Gedanken gemacht, als unser Vater gestorben ist. Zum Glück völlig umsonst. Statt zu vereinsamen und einzugehen, ist unsere Mutter richtig aufgeblüht. Zwar rennt sie nicht im Bahnhofsviertel herum und ballert sich ständig einen, allerdings ist sie regelmäßig mit Freundinnen unterwegs, besucht Veranstaltungen und reist fleißig mit meinem Bruder herum. Mein Vater hat sie nie unterdrückt, allerdings wollte meine Mutter nie allein losziehen – ob aus Angst oder aus Bequemlichkeit, kann ich nicht sagen. Jetzt, da sie es muss, tut sie es.
Am Muttertag (vorgestern) haben wir telefoniert. Da hat sie mir einige Dinge über Schalke gesagt, die ich grob zusammenfasse mit: Alle unfähig, alles scheiße. Ganz casual ließ sie fallen, dass sie jetzt eine Englischklasse für Seniorinnen besucht. Ich meine, ihr Japanisch ist überdurchschnittlich gut, ihre Deutschkenntnisse sind herausragend (Aussprache eher mies, aber sie versteht wirklich alles, auch hochkomplexe Texte), trotzdem habe ich sie nie mit Fremdsprachen an sich in Verbindung gebracht. Seltsamerweise.
Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist
Ich finde es genial, dass meine Mutter mit 71 eine neue Sprache lernt. Und zwar mit anderen älteren Frauen. Wie bestärkend ist das bitte? Meine Mutter hat sicherlich keine kapitalistische Bilderbuchkarriere hingelegt, nicht promoviert, keinen geil bezahlten Job ausgeübt. Allerdings feiere ich sie trotzdem ab, weil sie drei einigermaßen anständige Kinder erzogen hat, so viel kann und weiß, einen riesigen Haufen Scheiße durchgemacht hat und trotzdem ein außergewöhnlich reiches Leben lebt.
Dabei möchte ich nicht unerwähnt lassen, wie Patriarchat und Rassismus Frauen wie meine Mutter das Leben brutal schwierig machen. Feiert also am Muttertag nicht einfach nur die Mütter ab, sondern bekämpft das verschissene Patriarchat, das vor allem Frauen, am Ende aber uns alle klein hält und krank macht, die keine weißen Reichen sind.