Die meisten Menschen, denen ich in der Werbebranche begegnet bin, halten sich für erheblich schlauer als andere. Das liegt daran, dass sie viele Tricks und Kniffe des Marketings kennen, die der breiten Masse unbekannt sind. Als neutrale Beobachterin fragt man sich: Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Nun, es gibt kognitive und soziale Gründe, weshalb Fachpersonen dazu neigen, sich auch in fachfremden Bereichen überlegen zu fühlen. Zum Glück gibt es Methoden, um sich vor der Selbstüberschätzung zu schützen.
Gerade eben habe ich einen LinkedIn-Post eines Werbers gesehen, der sich für überdurchschnittlich genial hält. Am liebsten hätte ich kommentiert: „Komm runter, du machst nur Werbung.“ Dann habe ich mich gefragt, wieso so viele Werber*innen sich maßlos überschätzen und für unfassbar klug halten. Spoiler: Die meisten Werber*innen sind nicht klug, sonst wären sie nicht in der Werbung gelandet. Das nur nebenbei. In anderen Bereichen sind mir ähnliche Verhaltensweisen aufgefallen.
Menschen neigen dazu, sich über dem Durchschnitt zu sehen. Das gilt generell und hat etwas mit unserem Überlebensinstinkt zu tun. Im Laufe unseres Lebens kann sich das ändern, im Großen und Ganzen aber halten sich die meisten Menschen für etwas besonderer als den Rest der Menschheit. Wer sich in einem bestimmten Bereich eine hohe Kompetenz erarbeitet hat, misst dem erworbenen Wissen einen unverhältnismäßig höheren Wert bei. Kein Wunder, schließlich hat man sich intensiv mit der Thematik beschäftigt und kennt viele knifflige Details.
Wir manipulieren uns ständig selbst
Je tiefer wir in ein Thema einsteigen, desto mehr Feinheiten entdecken wir. Bei der Bewertung unseres eigenen Wissens können wir also kaum neutral sein. Ironischerweise führt gerade die intensive Beschäftigung mit einem Thema dazu, zu denken, man hätte sich besonders komplexes Wissen angeeignet. Dadurch denken wir häufig, dass wir auch andere, uns simpler erscheinende Themen begreifen. Dabei erscheinen uns fremde Themen simpler, weil wir uns eben noch nicht intensiv mit ihnen beschäftigt haben. Wir bauen uns also eine Illusion auf, die uns schmeichelt.
Darüber hinaus fallen uns die Themen besonders leicht, mit denen wir uns intensiv beschäftigt haben. Dadurch bewerten wir die Schwierigkeit und Komplexität des Themas falsch. Ein Experte in Mathematik wird sich daher immer fragen, wieso du diese einfache Rechnung nicht verstehst, und hält dich dadurch sehr wahrscheinlich schon für etwas weniger klug. Marketing besteht zu einem Großteil aus Wissen, das die breite Masse nicht hat, was den Effekt der Selbstüberschätzung noch verstärkt.
Das Erlebte von gestern führt zum Verhalten von heute
Aus sozialer Sicht tendieren Menschen dazu, Defizite in ihrer Kindheit später als Erwachsene zu kompensieren. Galt man also in jüngeren Jahren als talentlos und dumm (oder wurde ständig so bezeichnet), verstärkt sich die Selbstüberschätzung oder Selbstüberhöhung im späteren Leben. Dazu gehört auch die Überbewertung akademischer Grade, Abschlüsse, Zeugnisse und Lebensläufe. Denn unsichere oder verunsicherte Menschen benötigen „Beweise“ für ihre Kompetenz, bevorzugt Schwarz auf Weiß und mit Stempel. Sie besitzen nicht die innere Festigkeit, um sich selbst auch ohne Papier und Noten einen gewissen Wert beizumessen. Die genannten Verhaltens- und Denkmuster sitzen tief. Deshalb sollten Betroffene ihre seelischen und psychischen Wunden professionell behandeln lassen.
Darüber hinaus habe ich für mich zwei wichtige Gedanken gefunden, mit denen ich mich selbst immer wieder in die richtige Perspektive bringe. Der erste Gedanke: Niemand muss alles wissen. Ein entlastender, beruhigender Satz. Denn er bedeutet einerseits, dass ich nicht alles wissen muss. Daher darf ich nachfragen, dazulernen, mich irren. Andererseits bedeutet er aber auch, dass andere nicht alles wissen müssen. So komme ich gar nicht erst in die Position, andere fälschlicherweise abzuwerten. Stattdessen kann ich eine Hilfe sein, eine Orientierung, ein Anlaufpunkt. Der zweite Gedanke: Jeder Mensch hat andere Stärken. Ich erlebe es oft, dass sich Menschen über einzelne Schwächen anderer lustig machen. Natürlich sollte eine Controllerin ein bisschen rechnen können, der Dachdecker darf gern schwindelfrei sein. Allerdings sollte sich niemand selbst nicht zum Maßstab machen, weder für die eigenen Stärken noch für die Schwächen. Schließlich können die meisten Menschen extrem wenig und wären ohne Supermarkt und Privilegien nach spätestens einer Woche tot.