Ich kann mich nicht daran erinnern, dass früher zu Hause jemals ein Problem offen und lösungsorientiert besprochen wurde. Aufgefallen ist mir das allerdings erst viel später. Schließlich kannte ich es ja nicht anders. Je älter ich wurde, desto stärker zeigte sich dieses Verhalten auch innerhalb meiner Verwandtschaft in Japan. So habe ich gestern überraschend erfahren, dass eine meiner Lieblingstanten, die älteste Schwester meiner Mutter, mich nicht mehr sehen möchte. Der Grund liegt zehn Jahre zurück und sagt viel über die japanische Gesellschaft im Umgang mit Problemen aus.

Wenn ich innerhalb unserer Familie zeitlich zurückblicke, war ich der Erste, der in unserer Familie angefangen hat, Probleme vernünftig anzusprechen. Dazu muss ich vielleicht erklären, dass ich in vielen Dingen der Erste in meiner Familie war. Auch wenn es regelmäßig unbequem war, fand ich es immer schon reizvoll, etwas anders zu sein in einer eh schon ungewöhnlichen Familie. Probleme wurden auch deshalb selten ausdiskutiert, weil unsere Eltern kaum Zeit für so etwas hatten. Unser Vater war ständig unterwegs und unsere Mutter hatte durchaus genug zu tun mit drei Kindern an der Backe. Meine Geschwister hatten Freund*innen, ich nicht, also entwickelte ich meinen Redebedarf irgendwann zu Hause. Allerdings erst zum Ende meiner Schulzeit.

Als ich jung war, wurden Probleme in meiner Familie durch Lautstärke gelöst. Man setzte das durch, was man wollte, statt in den Ursachen der Meinungsverschiedenheit nach einem Konsens zu suchen. Das ist nicht ungewöhnlich, die meisten Menschen streiten falsch und möchten nur gewinnen. Allerdings rührten die Eskalationen bei uns in der Familie besonders durch das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Kulturen. Während in Japan Dinge wie Ansehen und Gehorsam zählen, sind wir Kinder im Ruhrgebiet aufgewachsen und sozialisiert worden. Wir haben nicht besonders moderat diskutiert. Unsere direkte Art stand im krassen Gegensatz zur japanischen Verschwiegenheit.

Das Hauptproblem unserer Zeit: mangelhafte Kommunikationsfähigkeit

Gestern Abend habe ich mit meiner Mutter telefoniert und erfahren, dass ihre älteste Schwester mich nicht mehr sehen möchte. Die Tante war schon immer ein fröhlicher Mensch, allerdings bei schlechter Laune unaufhaltsam und irrational. Sie hat definitiv zwei Gesichter. Der Grund ihres Beleidigtseins: Ich war vor zehn Jahren das letzte Mal in Japan, gemeinsam mit meiner damaligen Frau. Am letzten Abend der zweiwöchigen Reise, ich war da aus vielen Gründen mental am Ende, gab es ein Missverständnis wegen des Essens. Meine Exfrau regte sich darüber auf, dass augenscheinlich nichts Veganes vorbereitet worden war, und ich gab das recht ungefiltert weiter. Meine Tante hatte den Abend organisiert und natürlich auch an die vegane Alternative gedacht. Vermutlich war sie innerlich sehr verletzt, äußerlich war dagegen alles fein. Wir verbrachten gemeinsam einen schönen, lustigen Abend.

Es gibt hier zwei Themen, die getrennt betrachtet werden müssen. Thema Nummer eins: mein Verhalten. Das war nicht in Ordnung, das steht außer Frage. Thema Nummer zwei: ihr Verhalten. Wir sind keine wildfremden Menschen, sie kannte mich da seit 33 Jahren. Meine Frage könnte wehtun, allerdings muss ich sie stellen: Wie wichtig war ihr unsere Beziehung, wenn eine unbedachte Äußerung dazu führt, dass sie mich aus ihrem Leben streicht? Mit dieser Frage muss ich mich beschäftigen, wenn ich darüber nachdenke, ob ich noch einmal einen Kontaktversuch starten soll. Ich habe mich in den vergangenen zehn Jahren erheblich weiterentwickelt, sie schmollt seit zehn Jahren. Sollten wir uns vertragen, was würde bei der nächsten Meinungsverschiedenheit passieren? Wieder zehn Jahre schmollen? Die Ursache für die Eskalation sehe ich dabei nicht hauptsächlich bei meiner Tante, sondern bei der stark patriarchalen japanischen Gesellschaft.

Japanischer Eintopf Chanko-Nabe mit Gemüse, Tofu und Pilzen in einer karamellfarbenen Brühe
Die Wurzel allen Übels: der vegane Eintopf vom verhängnisvollen Abend im Chanko-Restaurant.

Wie das Patriarchat Familien zerstört

Seit ich mich erinnern kann, war meine Tante ein überaus fröhlicher Mensch. Eines allerdings konnte sie auf den Tod nicht ausstehen: wenn sie das Gefühl hatte, übersehen zu werden. Und sie wurde oft übersehen, schließlich war sie – soweit ich weiß – ihr Leben lang Hausfrau. Das misogyne, patriarchale Rollenverständnis ist in Japan auch heute noch verbreitet und eher Normalität als Ausnahme. Meine Tante hat die Familie organisiert, die Töchter erzogen und den Haushalt geführt. Und so wie ich das einschätze, haben es alle – wie bei uns in der Familie auch – für selbstverständlich gehalten.

Probleme wurden nie direkt angesprochen und geklärt. Also hat sich meine Tante angewöhnt, ihre Wut anders zu verarbeiten. Als sie früher sauer auf ihren Mann oder ihre Töchter war, hat sie zusammenhanglose Tiraden losgelassen und über alles und jeden geschimpft. Und ihr Umfeld hat es als Spleen abgetan, statt sich mit ihrer psychischen Verfassung auseinanderzusetzen oder ihre Anstrengungen wertzuschätzen. Die Konsequenzen: Mit über 70 Jahren verarbeitet sie zwischenmenschliche Probleme wie ein Kleinkind. Also darf jetzt ich, der mehr als 30 Jahre jüngere Neffe, entscheiden, wie oder ob es mit uns weitergeht. Und schon wieder prallen unsere unterschiedlichen Sozialisierungen aufeinander.

Menschen, die nicht zuhören, lassen sich nicht überzeugen

Ich plädiere dafür, Nazis konsequent aus der Gesellschaft auszuschließen, auszugrenzen, sozial abzutöten. Warum? Weil es sich um Menschen handelt, die keinen Argumenten folgen. Menschen, denen Argumente egal sind, lassen sich durch nichts überzeugen. Es gibt viele Menschen, die nicht zuhören können. Sie hören nur sich selbst, denken nur an sich selbst und möchten nicht gemeinsam voranschreiten, sondern allein. Mit solchen Menschen möchte ich nichts zu tun haben. Allerdings hängen an meiner Tante eine Reihe weiterer Menschen, die mir wichtig sind.

Was ist mit dem Onkel? Was ist mit den Cousinen und deren Familien? Das sind die häufig unerkannten Auswirkungen des Patriarchats auf Familien. Und ich bin immer wieder erstaunt darüber, wie viele erwachsene Menschen nicht in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen und Konfrontationen anzunehmen. So glänzt auch meine restliche japanische Verwandtschaft mit weiteren bedenklichen Beispielen und Verhaltensauffälligkeiten. Da spricht ein Onkel jahrelang nicht mehr mit dem anderen. Wegen Karaoke. Oder jemand versucht, wegen angehäufter Schulden eine Verwandte abzuzocken. Jedes Mal, wenn ich unter irgendwelchen YouTube-Videos über Japan von den mega nicen Japaner*innen lese, lache ich mich innerlich kaputt. Jetzt muss ich intensiv darüber nachdenken, ob ich in wenigen Monaten wieder nach Japan fliegen möchte oder nicht. Wir werden sehen.